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Die Gefahren des Fliegens in Mexico oder die Erinnerung an Ozymandias


In Oaxaca in Mexiko gab es einen Missionar, der eine bescheidene Stinson 108 hatte und ein Problem mit dem dortigen Flugzeugmechaniker. Der Mexikaner war wohl eifersüchtig und hatte Angst, dass Lance ihm zuviel Konkurrenz machen könnte. Daher sabotierte er Lances Flugzeug zweimal. Das erste Mal schnitt er das Kabel für das Querruder durch. Der Sicherheitsdraht war unversehrt, so dass bei der Vorflugkontrolle alles in Ordnung schien. Während des Flugs riss der Sicherheitsdraht schließlich (so eine Situation, in der man nur noch denkt: "Jetzt ist der ganze Tag im Eimer") und Lance schaffte es gerade so zu landen, indem er große Kreise flog. Jedenfalls ging das gerade noch mal gut. Beim nächsten Versuch leerte der Mexikaner dann Lances Treibstofftank aus und befüllte ihn mit Wasser. Als Lance die für gewöhnlich geringfügigen Wasserrückstände unten im Tank ablassen wollte, sah er, dass etwas nicht stimmte, also ließ er mehr Wasser ab. Und mehr. Und noch mehr. Diesmal wurde ihm klar, was passiert war, bevor er abhob.

 

Das ist der Hintergrund. Jetzt zur Geschichte. Eines schönen Sonntagmorgens erklärte Lance seiner Sonntagsschulklasse, dass derjenige, der die meisten Bibelverse auswendig lernen könnte, einmal in seinem Flieger mitfliegen dürfte. Ein nettes mexikanisches Mädchen gewann später den Wettbewerb und er hob mit ihr ab. Mitten im Flug hörten die Beiden plötzlich ein schussähnliches Geräusch. Zuerst dachte Lance, dass das der mexikanische Mechaniker sein musste, der versuchte ihn abzuschießen. Dann schaute er nach oben und sah, dass die obere Bespannung des Flugzeugrumpfes abgerissen war. Anstatt nun seine neue Stinson-Cabrio zu genießen, beschloss er zu landen. Er beschloss auch noch, dass seine Stinson eine neue Bespannung brauchte. An diesem Punkt kam ich ins Spiel. In gewissem Sinne.

 

Etwas später war ich gerade in San Antonio in Texas bei United Aero um einige Dinge zu besorgen. Ich kam ins Geschäft und da stand ein älterer Mann, der auf ein Stits-Handbuch starrte, als ware es ein Griechischwörterbuch. Da er Missionar war, wäre es für ihn wahrscheinlich gar nicht schwer gewesen, ein Griechischwörterbuch zu lesen, aber das wusste ich ja nicht. Ich ging zum Ladentisch hinüber und Clint (der Inhaber, den ich sehr vermisse), sagte eben zu dem älteren Mann: "Da ist die junge Dame, mit der Sie reden sollten". Nach einem Gespräch, einem Hamburger und einem Milchshake bei Whataburger in Austin in Texas, hatte ich den Auftrag in der Tasche. Sein Sohn musste seine Stinson reparieren lassen und ich sollte mit dem Sohn und seiner Familie nach Oaxaca in Mexiko fahren. Fast 500 km südöstlich von Mexiko Stadt.

 

Die Fahrt dauerte vier Tage. Die Landschaft war sehr schön. Lance und seine Familie hatten einen riesigen Wohnwagen, in dem er Stoff, Spannlack, Klebelack und Farbe versteckt hatte, eben alles, was man so braucht. Er hatte auch einen Deutschen Schäferhund, der ihm gegeben worden war, um seine Hacienda zu bewachen. An der Grenze tauchten wir in einer Karawane von Rentnern und ihren Wohnwagen unter, die auf einem Gruppenausflug nach Mexiko waren. Das war gut so. Es war auch gut, dass der Grenzbeamte, der Lances Wohnwagen kontrollieren sollte, nur einen kurzen Blick auf den Schäferhund warf und uns dann einfach durchwinkte. Und schließlich war es noch sehr hilfreich, dass Lance fließend Spanisch spricht und sich in Mexiko auskennt wie in seiner Westentasche. äußerst hilfreich.

 

Wie gesagt, die Landschaft war sehr schön - Wüste, Dschungel (oder auch tropischer Regenwald für alle Naturbewussten), Prärie, Berge, Wälder, sogar der Atlantik bei Tampico. Falls ich mal gerade nicht von der Landschaft in Beschlag genommen war, verschlang ich ein Buch mit dem Titel "Spanisch lernen innerhalb der vier Tage, die man von Austin nach Oaxaca fährt". Das war nicht ganz der Titel, aber so in der Art. Lance und seine Familie hatten eine etwa 3 ha große Hacienda mit einem großen Haus, einer Werkstatt und anderen Nebengebäuden. Zwei Mexikaner halfen Lance bei der Gartenarbeit und Instandhaltung der Hacienda und eine junge Bedienstete kochte und machte sauber. Lance und Gloria haben vier Töchter.

 

Die Reparatur der Bespannung war kein ungewöhnlicher Auftrag, aber mit der Hilfe einiger befreundeter Gäste montierten wir zusätzlich Supertips an den Tragflächen, damit Lance auf den kurzen Landebahnen der Bergdörfer besser landen konnte. Ich arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und konnte so drei Wochen lang 60 Stunden pro Woche absolvieren. Natürlich einschließlich gelegentlicher Ausflüge und Sonntagsgottesdienste.

 

Eine Woche später kam Lance auf mich zu und sagte, dass sein Onkel Dean zu Besuch kommen wollte und dass ich nicht überrascht oder beleidigt sein sollte, falls Dean mich damit aufzöge, dass ich aus Texas bin, oder sonstige Witze machte. Da Lance selbst etwa so viel Humor besaß wie eine Schachtel Nägel, freute ich mich ehrlich gesagt darauf, Onkel Dean kennen zu lernen. Wenige Stunden später kam dann ein großes Auto mit einem älteren Mann und seiner Frau. Das mussten wohl Onkel Dean und Tante Ardith sein, dachte ich mir. Ich klebte zu diesem Zeitpunkt auf dem Rasen vor der kleinen Werkstatt Stoff auf den Flugzeugrumpf, also dachte ich mir, dass ich Onkel Dean am Besten mit einem großen Batzen Klebelack in der rechten Hand begrüßen sollte. Als er herüberkam und mir die Hand gab, schreckte er zurück, schaute auf seine Hand und sagte: "Das haben Sie mit Absicht getan!" Seitdem sind wir gute Freunde!

 

Dean sah mir gern bei der Arbeit zu und ich hatte ihn gerne um mich. Da er einen Herzinfarkt überlebt hatte, konnte er keine schwere Arbeit mehr tun. Nach einigen Tagen, beschloss er, dass ich eine Pause verdiente. Er wollte mit Tante Ardith nach Oaxaca ins Stadtzentrum fahren, um die Mariachis (mexikanische Musiker) zu hören und die Stadt zu sehen. Ich sagte, er müsste erst Lance fragen, schließlich wäre ich da um die Stinson zu bespannen und nicht um mich zu amüsieren. Dean verschwand. Wenig später kam er zurück und sagte: "Okay, wir können gehn". Im Auto nahm ich dann all meinen Mut zusammen und fragte: "Onkel Dean, trinkst du manchmal Bier?" Dazu muss man wissen, dass es sich hier um Independent Fundamental Baptists handelte. Sie dürfen nicht tanzen, nicht Karten spielen und ganz sicher keinen Alkohol anrühren. Ich als charismatische Christin und Nicht-Baptistin halte mich nicht an solche Regeln und hatte den Eindruck, dass auch Onkel Dean da etwas lockerer war. Und ich hatte viel Gutes über mexikanisches Bier gehört. Wie dem auch sei, Dean sagte: "Na ja, nicht regelmäßig, aber wenn du gerne ein Bierchen trinken willst, komme ich mit!" Wir fanden ein kleines Cafe an der Plaza, vor dem wir uns also eine Runde mexikanisches Bier genehmigten und den Mariachis zuhörten. Ich bin nicht sicher, ob das noch zu überbieten ist.

 

Eines Abends bespannte ich gerade eine Tragfläche in der Werkstatt, als einer der mexikanischen Angestellten mit seiner Frau vorbeikam, um zuzusehen. Die Frau fragte Lance, der auch da war: "Wie kann sie einfach zum Arbeiten hierher kommen und ihren Mann und ihre Kinder zuhause alleine lassen?" Lance antwortete (alles auf Spanisch, d.h. Lance übersetzte mir das erst später), "Sie hat keine Kinder", woraufhin der Mann sagte: "Hätte sie gerne ein paar von unseren?". Das machte seine Frau sehr wütend. Ich denke mal, sie hat es überwunden, aber das werde ich nie wissen.

 

Diese Mexikaner waren sehr arm. Wie arm, fragen Sie jetzt vielleicht. Na ja, Lance erklärte mir, dass falls ich einmal bei einer mexikanischen Familie zuhause wäre und die Toilette benutzen müsste, dann sollte ich nicht nach der Toilette fragen, sondern vielmehr, wo ich denn auf die Toilette gehen könnte, und dann darauf eingestellt sein, dass man mich auf die Hintertür verwies. Ich glaube, das ist der Grund, aus dem alles Obst und Gemüse von der Hacienda zuerst in Bleichmittel gewaschen und vorsichtig geschält werden musste, ehe man es essen konnte.

 

Trotzdem gab es jeden Tag immer ein großes Mittagessen am frühen Nachmittag, an dem etwa 12 bis 14 Leute teilnahmen! Das waren Don und seine Frau, ein Ehepaar aus Michigan, Lance und Gloria und ihre vier Kinder, Onkel Dean und Tante Ardith, die Angestellten und noch andere Gäste, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Eines Tages präsentierte uns Lance dann nach dem Mittagessen einige gebratene Grashüpfer, die er auf dem Markt gekauft hatte. Er rief seine siebenjährige Tochter zurück an den Tisch, die uns zeigen sollte, wie sie gebratene Grashüpfer isst. Als sie anfing, die Grashüpfer wie Kartoffelchips in ihrem Mund verschwinden zu lassen, sagte Lance, "Okay lass uns auch noch ein paar übrig!" und das Mädchen ging wieder. Dann wollten wir alle zuschauen, wie Gloria einen Grashüpfer isst. Gloria war eine sehr damenhafte Frau, die stets Röcke und hochhackige Schuhe trug, auch wenn sie über Kopfsteinpflaster laufen musste. Sie war eigentlich ganz nett, aber - auch wenn ich das eigentlich nicht erwähnen muss - wir hatten nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Jedenfalls warteten wir alle gespannt, bis Gloria schließlich sagte, "Oh, ich mache mir nicht so viel aus denen" und sich daraufhin einen Grashüpfer in den Mund schob und ihn verspeiste. GRRR. Das war alles, was mir fehlte. Diese gezierte Dame würde mich beim Grashüpfer-Wettessen nicht übertrumpfen. Die Schüssel mit den Grashüpfern wurde herumgereicht und die Männer am Tisch, die wahrscheinlich das Gleiche dachten wie ich, nahmen sich alle eins von den Insekten und aßen es. Die Frauen reichten die Schüssel einfach an den nächsten Macho-Mann weiter. Dann war ich an der Reihe. Ich nahm einen Grashüpfer in die Hand und schaute ihn an. Er schaute zurück. Ich hatte noch nie etwas gegessen, was mich anschaute. Aber das musste ich jetzt einfach. Ich musste einfach. Mein Stolz stand auf dem Spiel. Plötzlich war er in meinem Mund. Und was jetzt? Sollte ich ihn einfach so herunterschlucken? Erst kauen? Mit den Augen, Gedärmen und allem drum und dran? Igitt. Da war er, der entscheidende Moment, der Sprung ins kalte Wasser. Ich kaute den Grashüpfer schnell herunter und für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Dann war es vorbei. Ich hatte es überstanden und gemerkt, dass das gar nicht so schlimm gewesen war. Also aß ich etwa fünf oder sechs von den Dingern, nur um zu beweisen, was auch immer ich beweisen wollte, und arbeitete dann weiter an meinem Auftrag und mein Leben ging weiter.

 

Die drei Wochen waren schon fast vorbei und das Flugzeug war fast fertig bespannt und musste noch fertig lackiert werden. Onkel Dean plante einen weiteren Ausflug. Diesmal wollten wir die miztekischen Ruinen mit dem Namen Monte Alban besichtigen gehen. Wenn Sie den Film "Nacho Libre" kennen, dann haben Sie nicht nur das Stadtzentrum von Oaxaca in einigen Szenen gesehen, sondern auch Monte Alban. Als wir ankamen, wurde mir klar, dass Onkel Dean bei Ruinenbesichtigungen gerne jemanden vorschickt: "Shirley, kletter mal da hoch und erzähl uns, was du siehst!" Was aber Spaß gemacht hat, um ehrlich zu sein. Wir besichtigten zuerst den unteren Teil und dann kletterte ich die massiven Felsblöcke hoch um herauszufinden, was es zu sehen gab. Es roch jedenfalls sehr viel besser als unten am Boden. Genaugenommen war der Geruch an einigen engen Stellen recht streng, deshalb nenne ich den Ort jetzt "Monte Al Banyo" [spanisch: der Toilettenberg]. So viel dazu. Oben auf einer Ruine war ich fasziniert von dem Anblick, der sich mir bot: der Verfall einer antiken Anlage, die Vergänglichkeit einer einst großartigen Zivilisation, und das furchtbare Ritual der Menschenopfer. Ich war so fasziniert, dass ich im Laufen sagte: "Mein Name ist Ozymandias". Als Reaktion darauf erwiderte ein in der Nähe vorbeilaufender Mann: "Erblickt meine Werke, Ihr Mächtigen, und verzweifelt". Das war alles. Der Mann verschwand in Gegenrichtung, ich ging meinen Weg weiter. Ein kurzer Augenblick vergänglicher Dichtkunst, den ich nie vergessen werde.

 

Die drei Wochen waren vorüber. Das Flugzeug war fertig repariert. Ich hatte herausgefunden, dass ich auch zwischen den Zeiten, die ich damit zubrachte mich zu übergeben, bespannen, Rippenstiche knoten und lackieren konnte, denn so geht es einem, wenn man die Länder südlich des Rio Grande besucht. Das und der zusätzliche Wettlauf zur Toilette. Lance kaufte mir ein Flugticket and fuhr mich zum Flughafen von Oaxaca. Und das wars. Ich war wieder in Austin. Kein Azteke oder Mizteke mehr, nur noch High-Tech.

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